Der niedersächsische Obstreisermuttergarten
Das Sachgebiet 3.16.10 des Pflanzenschutzamtes Hannover ist mit der Verwaltung, Pflege und Kontrolle des niedersächsischen Obstreisermuttergartens betraut. Der Obstmuttergarten in Niedersachsen ist einer von drei Reiserschnittgärten in Deutschland, neben dem Obstmuttergarten Rheinland (NRW) und dem Reiserschnittgarten Baden-Württemberg. Die Aufgabe der Obstmuttergärten ist es, gesundes und qualitativ hochwertiges Vermehrungsmaterial von Obst zu erzeugen.
Auf einer Gesamtfläche von ca. 4,5 ha an den Standorten Vörie und Lemmie stehen insgesamt etwa 10.500 Bäume von fast 285 verschiedenen Obstsorten. Dabei handelt es sich um Kernobst- (Apfel und Birne) sowie Steinobstarten (Kirsche und Pflaume/Zwetschge).
Allein 137 verschiedene Apfelsorten gehören zum Sortiment des niedersächsischen Obstmuttergartens, darunter besondere „Alte Sorten“ wie z.B. der Altländer Pfannkuchenapfel, die Goldparmäne, Ingrid Marie oder der Geheimrat Dr. Oldenburg. Auch einige Zierapfelsorten stehen zur Verfügung. Da diese reichlich und lange blühen eignen sie sich besonders gut als Befruchter.
Rechtliche Grundlagen
Die Anforderungen an Vermehrungsmaterial von Obstarten sind in der EU-Vermarktungsrichtlinie 2008/90/EU festgelegt, die im Rahmen der Verordnung über das Inverkehrbringen von Anbaumaterial von Gemüse-, Obst- und Zierpflanzenarten oder kurz Anbaumaterialverordnung (AGOZV) in nationales Recht umgesetzt wurde.
Als Betrieb, der Vermehrungsmaterial vermehrt, erzeugt und in Verkehr bringt, ist der Obstmuttergarten des Pflanzenschutzamtes der Landwirtschaftskammer Niederachsen beim Pflanzenschutzdienst registriert.
Die Mutterbäume unterliegen durchgehend visuellen Kontrollen auf Schädlingsbefall. Außerdem finden regelmäßige Laboruntersuchungen auf vektorübertragbare Viruskrankheiten (z.B. Scharka) und Phytoplasmosen (z.B. Apfeltriebsucht) statt.
Es gibt zwei Arten von Vermehrungsmaterial: Anerkanntes Anbaumaterial und Standardmaterial.
Anerkanntes Anbaumaterial unterliegt einem Stufenaufbau. Es wird zwischen Vorstufen-, Basis- und Zertifiziertem Material unterschieden. Je früher die Stufe, desto intensiver die vorangehende Testung. Der Großteil der Bäume im niedersächsischen Obstmuttergarten sind Mutterbäume für zertifiziertes Material.
Im sogenannten Basisquartier stehen Bäume zur Erzeugung von Basismaterial. Dieses wird zur Vermehrung von neuen zertifizierten Mutterbäumen verwendet.
Manche Sorten werden lediglich als CAC (Conformitas Agraria Communitatis) oder auch Standardmaterial angeboten. Gemäß den Anforderungen der AGOZV müssen diese Mutterbäume lediglich Minimalanforderungen erfüllen und frei von sichtbaren Schäden und Krankheiten sein. Die CAC-Bäume im niedersächsischen Obstmuttergarten entsprechen, in Hinblick auf Schaderreger, zwar dem zertifizierten Material, d.h. sie werden ebenfalls regelmäßigen Laboruntersuchungen unterzogen, aufgrund von sortenrechtlichen Regelungen können die Reiser dieser Sorten aber nicht als zertifiziertes Material angeboten werden.
Reiserschnitt
Zweimal im Jahr findet der Reiserschnitt statt. Mitte Juli bis Mitte August werden Edelreiser von den Mutterbäumen geschnitten, entblättert und schnellstmöglich ausgeliefert, um ein Austrocknen zu vermeiden. Die entsprechenden Sorten werden dann in den Baumschulen auf eine passende Unterlage okuliert. Dazu wird ein Auge aus dem Edelreis herausgeschnitten und hinter die gelöste Rinde der Unterlage eingesetzt. In der Regel können im Sommer aus einem Reis bis zu 10 Veredelungen werden/entstehen.
Der Winterreiserschnitt findet von Mitte November bis Ende Januar statt. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich die Reiser in Vegetationsruhe. Die Veredelung im Winter erfolgt in der Regel in Form einer Kopulation. Dazu werden das Edelreis und die Unterlage schräg angeschnitten und miteinander verkeilt. Im Winter können aus einem Reis etwa 3 Veredelungen hervorgehen.
Mit der Ausstellung des Pflanzenpasses und der Abgabe der Reiser wird die Freiheit von geregelten Schädlingen und sonstigen Mängeln bestätigt. Die Kennzeichnung von Vermehrungsmaterial ist EU-weit einheitlich geregelt und unterliegt einer Farbcodierung. Zertifiziertes Material erhält daher ein blaues Etikett auf dem alle relevanten Angaben zu Art, Sorte, Anzahl, Charge, Ausstellungsjahr und Erzeugungsland sowie Betrieb aufgeführt sind. Eine innerbetriebliche Rückverfolgung von dem in Verkehr gebrachten Material auf die Mutterbäume ist gewährleistet.
Die größte Gruppe an Abnehmern für Vermehrungsmaterial stellen Baumschulen dar, die mit den Reisern Obstbäume für den Erwerbsobstbau veredeln. Die Abgabe erfolgt bundesweit und teilweise auch in das EU-Ausland. Auch eine Abgabe kleinerer Mengen an Privatpersonen ist möglich.
Die Versorgung von Baumschulen mit gesunden Edelreisern ist der eine, der Erhalt von alten Sorten der andere Aspekt. Letzterer spielt natürlich auch eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung der Biodiversität. Die sogenannten „Alten Sorten“ sind häufig robuster gegen Krankheiten, was einen interessanten Ansatz für die Resistenzforschung darstellt. Der Erhalt des Genpools für Neuzüchtungen ist ebenfalls zu nennen. Dazu kommt, dass diese Sorten häufig verträglicher für Allergiker sind.
Pflanzenschutz und Pflege
Die Bewirtschaftung des Obstmuttergartens erfolgt nach guter fachlicher Praxis unter Berücksichtigung der Grundsätze des integrierten Pflanzenschutzes. D.h. es wird nur so viel wie nötig und so wenig wie möglich chemischer Pflanzenschutz betrieben. Die Anzahl an Behandlungen richtet sich nach dem vorliegenden Befallsdruck, weshalb keine pauschale Angabe gemacht werden kann. Bekämpft werden vor allem Milben, Läuse und Pilze. Dabei wird darauf geachtet möglichst wechselnde Wirkstoffe einzusetzen, um die Ausbildung von Resistenzen nicht zu fördern. Das immer weiter abnehmende Angebot an verfügbaren Pflanzenschutzmitteln - insbesondere im Bereich der Insektizide - erschwert die Aufrechterhaltung des Gesundheitszustandes der Bäume in den Obstmuttergärten erheblich. Dies betrifft insbesondere Insekten, die als Vektoren fungieren. Problematisch ist dabei, dass Viren und Phytoplasmen nicht direkt bekämpft werden können. Einmal infizierte Bäume werden nicht mehr gesund. Da sie eine Infektionsquelle für eine weitere Verbreitung im Bestand darstellen, müssen erkrankte Bäume direkt gerodet werden. Im schlimmsten Fall können weitreichende Rodungen dazu führen, dass bestimmte Sorten verschwinden.
Ab Mitte Februar werden die Bäume im Obstmuttergarten auf drei Augen des Jahrestriebes zurückgeschnitten. In dem Zuge können auch tote, beschädigte oder abgebrochene Äste entfernt werden, um eine optimale Versorgung des Baumes zu gewährleisten. Vor allem soll der Rückschnitt aber dafür sorgen, dass es zu einem starken Neuaustrieb kommt, sodass wieder ausreichend Reiser gebildet werden und für den Verkauf zur Verfügung stehen.
Das Bestellformular und die Sortenlisten werden rechtzeitig vor Beginn des Reiserschnitts auf der Website des Pflanzenschutzdienstes der LWK Niedersachsen veröffentlicht.
Sommerveredelung: ab Anfang/Mitte Mai
Winterveredelung: ab Anfang/Mitte Oktober
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